Schneetraum
Wie Hans Castorp in Sturm und Schneegestöber die Antwort auf große Menschheitsfragen findet – und sie gleich wieder vergisst
Davos aus Sicht von Wannegrat
Quelle: Wiki Commons
Hält ein Schriftsteller einen seiner Sätze für besonders tiefgründig und wichtig, setzt er ihn manchmal in kursive oder fette Schrift. Thomas Mann nutzt dieses Mittel in seinen Büchern nur sehr selten – umso bedeutender ist es, wenn er es doch tut. So an einer Stelle im „Zauberberg“:
Der Mensch soll um der Güte und der Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken.
Diesen Satz ersinnt Hans Castorp, als er bei einer Skitour in einen Schneesturm gerät und vor einer Hütte lange zu träumen beginnt. Er träumt von einer heiteren Landschaft an einem südlichen Meer, in der Jünglinge sattellos reiten und Mädchen zu Flötenklang tanzen. Doch plötzlich wechselt die Szenerie und wird zum Alptraum: Er findet sich in einem düsteren Tempel wieder, in dem grässliche Hexen ein kleines Kind zerreißen und seine Knöchlein abnagen.
Erschrocken und immer noch halb schlafend deutet sich Castorp seinen Traum. Die Sonnenwelt am Strand und der grausige Tempel, sie stehen für seine beiden Mentoren, den Humanisten Lodovico Settembrini und den Reaktionär Leo Naphta. Lange hat er sich ihre scharfen Diskussionen angehört – und ist nun zu dem Schluss gekommen, dass beide nur Schwätzer sind.
In seinem noch schläfrigen Kopf legt er sich ein versöhntes Miteinander von Sonnenstrand und Tempel zurecht. Er will dem Tod – dem Dunklen und Unheimlichen, aber auch Lustvollen und Verführerischen – in seinem Herzen „Treue halten“, ihm aber eben „keine Herrschaft einräumen“ über seine Gedanken. Dort sollen Liebe und Güte wohnen.
Der kursiv gesetzte Satz wird heute gelegentlich auf Trauerfeiern und in Todesanzeigen zitiert. Doch Thomas Mann ist kein Schriftsteller, der für Sinnsprüche gut ist. Er entzieht dem herausgehobenen Satz den Boden, indem er Hans Castorp seine Gedanken schon kurze Zeit später wieder vergessen lässt. Und überlässt es damit uns, den Leserinnen und Lesern, was wir aus diesem Satz machen.