Der durchleuchtete Körper

Der Boden bebt, Blitze huschen über die Wände, und irgendwo in der Nähe glimmt ein rotes Licht auf. Fiebrig verfolgt Hans Castorp das Geschehen in einem der Räume des Berghofs, wo in diesem Moment sein Cousin Joachim vor einem wuchtigen Röntgenapparat steht und sein Körperinneres ablichten lässt.   

Solche Geräte gehören in dieser Zeit zu den neuesten Errungenschaften der Medizin. Erst 1895 – gut zehn Jahre, bevor die Romanhandlung einsetzt – hatte der Physiker Wilhelm Conrad Röntgen zufällig eine bislang unbekannte Strahlung entdeckt, die er x-Strahlen nennt. Sie durchdringen den Menschenleib, geben erstmals Einblicke ins Innere eines lebendigen Körpers.   

Eine wissenschaftliche Sensation! Und zugleich die Überschreitung einer Grenze: Denn was kann privater und intimer sein als einen anderen Menschen in den eigenen Körper schauen zu lassen? Hans Castorp spürt das und bittet seinen Cousin um Erlaubnis, bevor er auf den Leuchtschirm blickt und Joachims schlagendes Herz sieht.              

Dann wird Castorp selbst geröntgt, darf nun seine eigene Hand durch den Schirm anschauen. Beim Betrachten der fleischlosen Fingerknochen wird ihm klar, dass das Röntgenbild ein Blick in die Zukunft ist: Er sieht seinen Tod und versteht erstmals, dass er sterben wird.      

Hans Castorp beginnt bald darauf, mit dem Cousin die Schwerkranken zu besuchen, die im Sanatorium einsam ihrem Ende entgegengehen – und deren Leichen heimlich aus dem Haus geschafft werden. Castorp wendet sich damit gegen die im Sanatorium herrschende Praxis, vom Tod nichts wissen und nichts sehen zu wollen. 

Heute können wir mit Ultraschall, Endoskopie und MRT-Geräten noch viel besser in den Menschen hineinschauen. Doch hat sich an der Verdrängung des Todes, die Hans Castorp auf dem Zauberberg ablehnt, etwas geändert?